Üben, also das konzentrierte Spielen bestimmter Stücke oder musikalischer Abschnitte auf der Gitarre für sich und ohne Publikum, ist für die (Weiter-)Entwicklung unverzichtbar. „Üben“ und „Lernen“ sind Begriffe, die durch Schule und andere Pflichtprogramme jedoch oft einen negativen Beigeschmack in uns entwickelt haben. Sie heißen Büffeln, Pauken, Einbläuen, Eindrillen usw. und suggerieren stets das genaue Gegenteil von Spaß und Leichtigkeit. „Spielen“ dagegen klingt weitaus entspannter und ist dabei im Grunde genommen doch nichts anderes als reinstes Üben und Lernen. Wenn wir uns das „Spielerische“ vor Augen halten und dabei an kleine Kinder denken oder in die Tierwelt schauen, so ist deren „Spiel“ im Grunde genommen ein reinster „Drill“ für die Anforderungen im Leben. Der feine Unterschied liegt allein darin, dass es nicht so genannt wird und alle spielerischen Aktivitäten nicht stets einem Zweck unterworfen werden, so wie in der Schule oder Ausbildung. Gedanken jeglicher Ökonomie wie z.B. „Ohne Preis kein Fleiß“ oder „Es muss sich rechnen“ haben in der Welt von Kindern oder Tieren keinen Platz und trotzdem lernen sie mit so großem Erfolg.
Weil manch einem die angeborene Fähigkeit und das intuitive Verlangen nach „Üben“ und „Lernen“ hier und da abhandengekommen ist, führt genau dies im Alltag zu bestimmten Hemmschwellen. Die meisten entscheiden sich ganz freiwillig für das Gitarre spielen und müssen sich trotzdem immer wieder zwingen zu üben – das ist völlig normal. Bei manchen klappt dies aber nicht immer oder gar nicht und wenn es hier ums Üben geht, dann geht es zunächst einmal darum zu üben, dass man übt. Ich habe daher ein paar Tipps und Gedanken zu diesem zentralen Thema zusammengefasst und hoffe, dass sie dir Hilfe oder Anreize vermitteln. Los geht’s:
Das Wichtigste ist: Die Gitarre zuhause nie in der Tasche oder im Koffer lassen. So sinnvoll, wichtig und auch schön anzuschauen die Verpackung auch sein mag. Ihr Zweck beschränkt sich in erster Linie auf den Transport und nicht auf ein Versteckspiel für das Instrument. Denn eine eingepackte Gitarre kann einen nicht anschauen und sagen „komm, spiel mit mir“. Das mag sich zwar etwas blumig anhören, ist aber leider oft so. Im Alltag ist man meistens mit so vielen Sachen beschäftigt, dass das Gitarre spielen (üben) zuweilen dauerhaft den letzten Platz der eigenen Prioritätenliste einnimmt. Ganz besonders schädliche Gedanken, die eine eingepackte Gitarre im Koffer in der Ecke im Vorbeigehen streifen sind zum Beispiel „ach ja, ich muss ja noch Gitarre üben“ oder „hm, die Gitarre ist noch eingepackt – muss ich ja extra noch raus holen“. Beinahe jeder Gitarrist kennt solche Gedanken und weiß aus eigener Erfahrung, dass auf diese Weise schnell eine oder zwei Wochen ins Land ziehen, ohne die Gitarre auch nur gesehen zu haben.
Manch einer hat auch das Problem (dies betrifft häufig Fortgeschrittene), dass er sein Instrument nur dann in die Hand nehmen möchte, wenn er davon ausgehen kann, dass er genügend Zeit dafür hat. Genügend Zeit, um wieder reinzukommen, die Finger aufzuwärmen, Altes zu wiederholen, Neues zu probieren usw. Besitzt er diese Gewissheit nicht, so lohnt es sich für ihn meist gar nicht erst mit dem Üben anzufangen, um dann womöglich vorzeitig abbrechen zu müssen. Ein derartiges Szenario kommt in seinen Augen quasi einer Verschwendung gleich.
Ein anderes beliebtes Konstrukt der „Stimmen im eigenen Kopf“ ist: Man nimmt sich direkt nach dem Unterricht – hochmotiviert – vor, gleich morgen bis zur nächsten Woche jeden Tag etwas zu üben. Aus morgen wird schnell übermorgen und überübermorgen. Jeden dieser 6 Tage kommt immer etwas dazwischen und wenn man dann vielleicht doch mal Zeit hat, ist es aus unerklärlichen Gründen dann doch „nicht der richtige Moment“ zum Üben. Man ist nicht gut drauf, kann sich nicht konzentrieren, ist müde... Vielleicht merkt man auch einfach nur, dass man sich mit seinen eigenen Zielen und Vorsätzen mal wieder etwas übernommen hat. Was folgt ist Resignation oder spätestens am letzten Tag die „Verzweiflungstat“, doch alles noch mal schnell in ein paar Minuten durchzuackern.
Für alle beschriebenen Fälle kann es hilfreich sein, sich selbst bzw. die „Stimmen im eigenen Kopf“ etwas auszutricksen. Dazu gehört zu allererst einmal, dass die Gitarre einen festen und halbwegs sichtbaren Platz in der Wohnung oder im Haus einnimmt – am besten im Gitarrenständer. Wir sollen die Gitarre sehen und die Gitarre soll uns sehen. Die neue Konstellation mit der zu uns gerichteten Gitarre im Raum bietet eine gute Chance, die alte Situation – des „zu viel zu tun, keine Zeit zum Gitarre spielen, Gitarre war seit letzter Unterrichtsstunde die ganze Woche eingepackt…“ - zu ändern.
Versuche dir die folgende Situation vorzustellen: „Ich gehe durch die Zimmer und habe den Kopf voll mit Gedanken. Jede Menge Aufgaben warten auf mich, die unbedingt noch abgearbeitet werden müssen. Zufällig gehe ich an meiner Gitarre vorbei. Ich merke, dass sie mich ansieht. Ich schaue zurück. Ich denke „was willst du?“ und frage rhetorisch „willst du mit mir spielen?“. Etwas verärgert sehe ich meine Gitarre an und hole sogleich zur Gegenfrage aus „ich habe noch so viel zu tun, wie kann du da ans Spielen denken?“. Die Gitarre schaut mich weiterhin unschuldig und naiv an. Nach kurzem Zögern sage ich mir „ok, aber nur fünf Minuten. Nur fünf Minuten um mich kurz zu entspannen. Nur ganz kurz den Tag unterbrechen, um dem Klang meiner Gitarre zu lauschen. Einen Augenblick lang alle anderen Gedanken und Verpflichtungen draußen lassen. Statt an viele Sachen jetzt nur an eine – die Musik und meine Gitarre – zu denken. Es sind ja nur fünf Minuten. Ich kann die Gitarre jederzeit wieder aus der Hand legen“.
Mit dieser Einstellung ist es möglich, kurzzeitig die Prioritäten der eigenen „To-do-Liste“ zugunsten des Gitarrenspiels zu beeinflussen. Alle anderen Aufgaben werden dabei sicherlich trotzdem nicht zu kurz kommen. Im Gegenteil: die Konzentration auf nur eine Sache statt auf viele wirkt entspannend und gibt gleichzeitig Kraft und neuen Antrieb für alles andere. So wird das tägliche kurze Ritual des „fünf Minuten Gitarre spielen“ zu einer kleinen Oase.
Der zweite Trick an der Sache ist, dass die Gewissheit, nur fünf Minuten üben zu müssen oder wollen und die Gitarre dabei jederzeit wieder weg gelegt werden kann, jeglichen Druck nimmt. Oftmals ist es sogar eher so, dass man nach den fünf Minuten überrascht anfängt zu denken „was, schon um? Ok, nur noch fünf Minuten, dann hör ich auf!“. Plötzlich bekommt das Üben einen Flow, obwohl wir es gar nicht erwartet haben – oder vielleicht auch gerade weil wir es nicht erwartet haben.
Der Lernerfolg selbst hängt letzten Endes von der Häufigkeit der Wiederholungen ab und der Zeit, die das Erlernte braucht, um ins Unterbewusstsein zu gelangen. Daher ist es effektiver jeden Tag mehrere Minuten zu üben, als mehrere Stunden an nur einem Tag in ein oder zwei Wochen. Je entspannter das Verhältnis zum Üben und je kostbarer man diese Zeit empfindet, desto größer der Erfolg. ¶